Diabetikertag

Ein Beitrag zur Qualitätssicherung


 

Diabetiker-Tag

Ein Beitrag zur Qualitätssicherung

von Michael Möller

 

  

 

Wann habe ich zum letzten Mal einen Diabetiker-Tag besucht? Ich erinnere mich, daß auch damals, es muß Jahre her sein, buntes Laub unter meinen Schuhen glitschte, als ich den Weg zu irgendeinem Krankenhaus ging. Immer im Herbst tingeln sie durch die Provinz: Vertreter einer Pharma-Industrie, die uns Diabetiker mit allem versorgt, was wir zum Überleben brauchen. Oder doch brauchen könnten! Die herbstliche Zeit ist sicher besonders geeignet, uns an unsere Hinfälligkeit zu erinnern wie auch an die Fälligkeit der nächsten ärztlichen Untersuchung.

Heute stimmt das Timing nicht so ganz. Der seit Tagen verhangene Himmel reißt am diesem Samstagmorgen auf. Eine frisch gewaschene Herbstsonne illuminiert die Zierbäumchen vor dem Kreiskrankenhaus aufs Ergötzlichste. Jenes Haustier, das man früher den "inneren Schweinehund" nannte, jault hörbar auf. Ich rufe ihn energisch zur Ordnung. Es genügte für heute der Hinweis, daß er unlöslich mit meinem Stoffwechsel vernetzt sei und genau wie ich aufpassen müsse, daß nicht Spätschäden ihn dereinst gefährden: "Du willst doch bestimmt kein Schweinehund auf diabetischen Pfoten werden und erblinden!" Das half. Ich kenne seinen lüsternen Blick... Also hinein in den abgedunkelten Festsaal, vorbei an den Tischreihen im Flur, wo die jung-dynamischen Vertreter und Gebietsleiter mit ihrem Tross von dynamisch-jungen Hostessen bunte Stellwände postieren und ihre Produktpalette aus dem Kistenschlaf befreien. Die Damen und Herren sind noch nicht ansprechbar - zuerst also in den Saal.

 


 

Typologie

Es ist merkwürdig, aber ich habe immer den Eindruck, alte Bekannte wiederzusehen: Diabetiker-Freunde sozusagen. Da sitzt die ältere Dame mit ihrem Begleiter, die sich unmittelbar nach dem ersten Wort des Krankenhausdirektors meldet und "Lauter!" ruft. Ein Herr aus ihrer Generation beschallt derweil den ganzen Saal mit einem extrem hohen Pfeifton aus seinem multifunktionalen Hörgerät mit automatischer Akustikumschaltung, dessen Bedienung ihm niemals richtig erklärt wurde. (Die meisten werden davon nicht gestört. Der Ton ist zu hoch für sie.) Links von mir sitzt der Berufsdiabetiker, der während des ersten Referates von 20 Minuten Dauer dreimal seinen Blutzucker bestimmt und aufschreibt. Er kommentiert jeden Wert leise und sauber artikulierend: 228 mg! Tstststs... Das muß aber besser werden!"

Hinten wird es unruhig. Da sitzt eine Mutter, die ihre diabetischen Sprößlinge dazu verdonnert, dem Vortrag über Altersdiabetes zu folgen oder den Saal zu verlassen. Die Kleinen stürzen hinaus und genießen das Quietschen der schweren Saaltüren: Ab zum Getränkestand! Meinen Segen haben sie. Auch den der Mutter, die inzwischen Rezepte für den diätetischen Kindergeburtstagskuchen mit der Nachbarin austauscht:

"Und der Süßstoff wird wirklich nicht bitter?"

"Na ja, ein bißchen schon. Aber da gibt es jetzt einen tollen Ersatz für den Zuckerersatz, aus Amerika..."

Dummerweise habe ich mich hinreißen lassen, mir einen Sitzplatz zu suchen, noch dazu mitten in der Stuhlreihe. Ich lande neben einer sehr jungen und ansehnlichen Vertreterin des weißbekittelten Hauspersonals. Sicher eine ÄiP, eine Ärztin im Praktikum, denn die Hörwarzen eines silbrigen Stethoskops lugen verräterisch aus der rechten Kitteltasche hervor. Der Direktor vorn erklärt, daß sich die ÄiP draußen eine Bescheinigung für ihre Teilnahme abholen können: Fortbildung ist für alle gut. Als ich verstohlen das Profil der jungen Dame noch einmal studieren will, merke ich, daß meine Vorsicht überflüssig ist: Die ÄiP ist eingeschlafen. Eine Bescheinigung gibts trotzdem, da sind wir nicht so. Während ich noch sinniere, wieso die Halbgöttin wohl so müde ist, wird es noch dunkler. Die ÄiP sackt vornüber, nicht zur Seite.

 


 

Qualität setzt sich durch

Der erste Referent ist dran. Obschon niedergelassener Arzt, steht er während des Vortrags. Er hat ein enormes Stimmvolumen, denke ich, als seine Stimme die ÄiP kurz aufzucken läßt. Erst mit Brille erkenne ich: Er trägt ein Mikrofon um den Hals und wird kräftig verstärkt. Die ältere Dame von vorhin meldet sich trotzdem, wird aber vom "Herrn Dokter" überstimmt. Der ist nur schemenhaft zu erkennen, denn hinter ihm leuchtet die Leinwand des Overheadprojektors grell auf. Der Referent hat seine Folien auf diabetische Zuhörer eingestellt, mit gaaanz großen Buchstaben. Ich kann die Brille wieder abnehmen.

Es geht um Qualitätssicherung in der Behandlung der Diabetiker hier im Kreis. Das Stichwort kenne ich schon von meinem (öffentlichen) Arbeitgeber. Ich habe, glaube ich, auch schon gemerkt, was es bedeutet:

"Tut uns ja auch leid, daß unsere Kassen leer sind, aber du bist der einzige, der uns da rausreißen kann: Also arbeite besser, schludere nicht mehr so rum, arbeite mehr und glaube nur nicht, daß du dafür auch mehr Geld bekommst. Aber nur ruhig: Gemeinsam schaffen wir das! Wir konjugieren im Chor: Ich kontrolliere dich. Du kontrollierst dich. Er, sie, es kontrolliert sich. Wir kontrollieren euch. Ihr kontrolliert euch. Sie kontrollieren sich. Na also. Geht doch."

Der Herrdokter erklärt also, daß es den Diabetikern immer besser gehen soll, obwohl an allen Ecken und Enden gespart werden muß. Und ich merke, daß sich etwas geändert hat in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Gewichen ist der "Ab-sofortmachen-wir-das-so!"- Ton. Heute klingt das anders: "Wir-wollen-daß-es-UNS-gut-geht-nicht-wahr?" Und ein bißchen Werbung hat sich auch eingeschlichen, allerdings nicht so reißerisch, daß es meine Nachbarin aus ihren Träumen reißen könnte. Eigentlich müßte ich jetzt nicht zuhören, denn für jeden einzelnen Gedanken hat der Herrdokter eine schöne Folie gedruckt. Als es zur Aussprache kommen soll, ist er sehr damit beschäftigt, die rutschigen Dinger zusammenzupacken und unter Kontrolle zu halten. Der einzige, der etwas zu sagen hat, ist ein Kollege, der seinerseits nun etwas Werbung macht und Namen von Herrendoktoren nennt, die noch nicht gefallen sind. "Vielen Dank für diesen Hinweis", kommt's aus den Lautsprechern, klingt's etwas gequält.

 


 

Der Nächste, bitte

Hell wird es im Saale, und ich erkenne weitere Leidensgenossen: Den Herrn, den ich immer im Bioladen treffe und dem vom Tisch des Herrn nur noch Sesamöle und Reisküchlein bekömmlich sind. Im Hintergrund stehen auf züchtigen Pumps die Damen von der Industrie, so jung und schon alte Bekannte: Kostümehen oder Hosenanzug, die Fingernägel immer gerade so lackiert, daß die Farbe überrascht. Sie stehen in Grüppchen zusammen und lassen alle Verkaufsschulung fahren, geben sich sozusagen natürlich, tragen innere Freizeitkleidung und suchen ständig eine Gelegenheit, unbeobachtet zu rauchen oder Prosecco zu trinken. Das Handy wird getragen wie früher ein Einstecktuch. Und der fast schon Vermißte, der Hausmeister, ja! kommt auch.- Der nächste Referent referiert bereits zwei Minuten so leise, daß niemand es bemerkt hat, nicht einmal die
ältere Dame. Er trägt zwar auch ein Halsbandmikro, benutzt es aber nur für eine Art schamanistisches Flüsterritual zur Beschwörung der diabetischen Geister. Der Hausmeister dreht auf und ab, doch der Referent, der nicht niedergelassen ist, sondern zum Hause gehört, läßt sich notgedrungen am Rednerpult nieder und bespricht jetzt insgesamt zwei Mikrofone. Das ändert nichts am Schamanismus. Der wird noch unterstützt durch eine weitere Verdunkelung, die ich optisch nie für möglich gehalten hätte. Aus einem Schwarzen Loch dämmern uns jetzt Dias entgegen. Zusammen mit den Beschwörungsformeln hat diese Vortragsweise verheerende Wirkungen für die ÄiP. Den einschmeichelnden Zahlenkolonnen und Studientiteln wie DCCP (sprich Diessiehssiepieh) oder ICT (sprich: ICT) erliegt sie vollends und fällt in komatösen Tiefschlaf.

Vor ihr hat eine muntere Kollegin Stellung bezogen: Sie hat den Diaprojektor zu bedienen und wird zu jedem Wechsel vom Herrndokter persönlich und niemals ohne Charme aufgefordert: "Sandra, könntest du jetzt bitte einmal das nächste Dia zeigen?" Es folgen noch 14 Dias und 14 Variationen dieser Frage. Der Referent hält einen hochmodernen Laser-Zeiger in Händen, was ich sehr bewundere und was mich daran erinnert, daß diese Geräte seit langem in deutschen Schulen verboten sind. Meine Angst vor Augenschäden ist jedoch grundlos. Er benutzt das Werkzeug lediglich für rhythmische Schläge aufs Rednerpult, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen zu dem hohen Ziel: ICT auch für TYP-II-Patienten! Ich bin Typ-I und darf gehen, nicht ohne zuvor die ÄiP zugedeckt zu haben mit der bei solchen Veranstaltungen immer verfügbaren Rettungsdecke.

 


 

Service

Auf dem Flur fällt mir wieder ein, warum ich hier bin: Der örtliche Apotheker bietet an, unsere Blutzuckermeßgeräte zu prüfen. Den Service will ich gerne in Anspruch nehmen, während im Saal noch der Schamane raunt und die Zuhörerschaft auf die Stühle bannt. Ich komme auch gleich dran und es geht alles sehr schnell. Zu schnell. Am Ende stehe ich ratlos da: Ohne einen verwendbaren Teststreifen und in tiefem Zweifel an meinem treuen Begleiter.

Ich rekonstruiere den Tathergang später so:

  1. Mein Testgerät wird äußerlich begutachtet und kommentiert: "Ach ja. Ich muß Sie jetzt hinweisen darauf, daß es ein neues Modell gibt. 44
  2. Ich soll den Kalibrierstreifen hergeben. Den hab ich nicht bei mir.
  3. "Dann nehme ich einfach einen Streifen aus der Apotheke." Nimmt einen Streifen, schaltet das Gerät ein. Das Gerät schaltet wie vorgesehen auf stur.
  4. Ich erkläre die Bedienung.
  5. Der Apotheker folgt der Erklärung und fordert den Blutzoll von mir.
  6. "Ach, da muß ich das Gerät ja erstmal auf meine Streifen kalibrieren. Das können Sie nachher bestimmt wieder umkalibrieren, damit es dann mit Ihren Streifen wieder richtig arbeitet. Oben ist ein Kollege von der Firma, der hilft Ihnen da sicher weiter." Und kalibriert.
  7. Ich tropfe auf. Neben mir hat inzwischen ein Insasse (Anstaltskleidung Jogginganzug und Pantoffeln) Aufstellung bezogen und verwickelt den Apotheker in die Frage, wieviel Finger der Mensch habe. Der Apotheker kennt sich aus und zählt vor: Links 10- 9-8-7-6, dazu die Fünf von rechts, macht elf! Die beiden haben enormen Spaß.
  8. "Ach ja. Was sagt er denn?" 244 mg. Der Insasse droht zu kollabieren: " Soo viel Zucker?" Der Medizinmann: "Da habe wir schon viel höhere Werte gemessen!" Mir ist peinlich, daß ich mich mit solchen Werten der Öffentlichkeit aussetze und augenscheinlich bislang überlebt habe.
  9. Kontrollmessung. "Können Sie noch einmal?" Er meint auftropfen. Ich kann. Wohin? "Hierher. Das ist das neue Gerät. Da braucht man jetzt viel weniger Blut. Das sehen Sie schon an der kleineren Auftropffläche." Ich sehe, daß die Fläche etwa viermal so groß ist wie die auf meinem Teststreifen und tropfe auf. 218mg.
  10. "Da sehen Sie mal, wie sehr Ihr Gerät abweicht. Da sind ja mindestens" - er sieht seine Assistentin an "mindestens 24 Prozent, oder?" Die Assistentin nickt unsicher.
  11. Ich werfe ein, daß es da doch spezielle Prüflösungen gibt, die einen bestimmten Wert ergeben müssen. "Ah ja!" Entschwindet nach oben. Ich beobachte derweil am Nebenstand einen bärtigen Finstermann, der am PC ein Programm ablaufen läßt: Diabetes interaktiv. Er starrt unverwandt auf die Tasten. Ist es ein Kollege oder ein Vorführer?
  12. Die Kontrollflüssigkeit soll Klarheit bringen, wird aufgetropft und ergibt 288 mg. "Hm. Hm."
  13. Der Kollege von der "Firma" kommt hinzu und beruhigt mich: "Da müssen Sie sich gar nichts dabei denken. Was der Herr hier gerade gemacht hat, darf man so nie machen: Zwei Geräte gegeneinander messen lassen. Da addiert sich die Fehlertoleranz von 15 Prozent zweimal bis zu 30 Prozent. Das macht also gar nichts, wenn die Werte nicht übereinstimmen. Das darf man nie machen." Ich werfe ein, daß wir die Kontrollflüssigkeit versucht haben. "Das darf man nie machen! Da müssen Sie erst einmal die Charge genau kennen. Die Werte stehen auf dem Beipackzettel." Den hat der Apother aber nicht. "Tja, das darf man so nie machen. Sie müssen immer gegen ein Laborgerät messen!" Das hat der Apotheker auch nicht.
  14. Ich habe jetzt keine klalibrierten Teststreifen mehr. Den Kalibrierstreifen werfe ich zuhause immer gleich weg, wenn ich kalibriert habe. "Kommen Sie gleich mal zu mir rauf, ich helfe Ihnen da weiter." Mein Vertrauen ist nicht sehr groß.
  15. Ein Leidensgenosse legt sein Meßgerät auf den Tisch und bittet um Prüfung. Der Apotheker führt den Streifen ein. Der Patient ruft wiederholt: "Andersrum! Andersrum!" Ich gehe nach oben.


Unterwegs freue ich mich über den Stand mit den neuesten Injektionshilfen meiner Hausmarke. Ich peile begierig die Pens in den aktuellen Herbstfarben an. Beim letzten Diabetikertag gabs als kleines Bonbon schon einmal einen Austausch-Pen gratis. Die Industrie nennt das dann einen Abgabeartikel, der die Kundschaft ans eigentliche Produkt Insulin binden soll. Ich zeige mich also interessiert, aber ich habe Pech. Gerade "meine" Firma hat einen Buchhaltertyp alter Schule entsandt, der mir nur widerwillig neue Funktionen erklärt und wohl schon ahnt, was ich erwarte. Mich lachen auch die neuen bunten Täschchen an, in die man seine Pens hüllen kann: Meines ist vom Dauergebrauch schon ergraut. Aber er will und will nicht verstehen. Vielleicht im zweiten
Anlauf!

Der nette Herr mit den Teststreifen erkennt mich wieder. "Ach ja, die Teststreifen. Ja, was machen wir da.... Haben Sie jetzt keine Streifen mehr?" Ich enthülle mein leeres Futteral. "Wissen Sie was, ich geb Ihnen einfach ein paar Streifen." Prima Idee, denke ich und erhoffe mir einen Vorrat für die nächsten Wochen. Er greift zur Packung - oh, nur eine 50er-Schachtel. Na immerhin. Aber dann reißt er sie auf und überreicht mir mit verschwörerischer Geste zehn Streifen. Ich versuche ihm klarzumachen, daß ich auch den passenden Kalibrierstreifen brauche, da unterbricht er mich und sagt gönnerhaft: "Sie sollen ja keinen Schaden wegen des Gerätetests davontragen", und lacht jovial. Irgendwie muß ich das alles geahnt haben. Ich war heute morgen in der Apotheke und habe mir hundert Streifen für einhundertfünfzig Mark gekauft. Ein gutes Gefühl!

Ich halte mich schadlos beim Stand der Konkurrenz, wo es Traubenzuckerwürfelchen gibt. Aber bei den Pens wollte ich doch noch nachhaken! Da stehen inzwischen der Buchhalter und zwei Hostessen beisammen, die Kundschaft hat sich verkrümelt. Ich höre nur ein paar Fetzen: "Das kann ich auf den Tod nicht leiden... knallt mir da seine alten Pens hin und will.... ich bin ja gar nicht so, aber diese Art..." Man amüsiert sich.

Ich stärke mich mit einer Tasse Kaffee, an der absolut nichts auszusetzen ist. Ich finde auch ein Bistro-Tischchen, an dem noch ein Kreissegment frei ist. Hier stärken sich auch die Mütter, aber bevor ich in den Erfahrungsaustausch eintreten kann - ich wollte in bißchen Insiderwissen über die heimischen Ärzte erhaschen - sind auch schon die Kinder da und maulen, weil ich ihr Kreissegment belegt habe. Dorthin knallen sie ihre Mineralwasserdosen. Ich entschuldige mich und strebe dem Ausgang zu.

 


 

Das neue Universum


Eine Stellwand brüllt mich an: "Galaktisch neu!" Gemeint ist ein Meßgerät. Es ist neben ein Foto von irgendeiner Mondmisssion montiert und kann alles, was ich mühsam mit meinem Gerät und einem Protokollbuch anstellen muß. Beleuchtetes Display! Ansehen kann ich es mir ja mal. Wenn ich schon da bin. Der Stand ist eigens zur Präsentation dieser diabetischen Landefähre aufgebaut worden, aber ich finde das Gerät nirgends - nur Konkurrenzgeräte allüberall. Vielleicht ist es gerade hinaus zu einer Marsumrundung. Ich frage nach. "Das haben wir nicht. Aber ich kann Ihnen meines zeigen." Wer so antwortet, ist der bärtige Interaktive. Er weiß selber nicht, ob er etwas präsentieren soll oder ob er zur Kundschaft zählt. Ich will schon abwinken, da mich seine privaten Gerätschaften wirklich nichts angehen, da drückt er es mir schon in die Hand. Unbeleuchtet. Ich fummle ein wenig herum und halte nach mehreren Minuten des Schweigens unter kritischen Blicken des Bärtigen tatsächlich ein beleuchtetes Gerätchen in der Hand. Drei Tasten nur, das schaff ich schon. Wenn man die linke drückt, blinkt ein schwarzer Balken und eröffnet eine Auswahlbox. Benutzerführung nennt man das. Ich kenne mich: So könnte ich Stunden weiter herumprobieren. Den Preis eines Testreifens wüßte ich gern: "Ach, das kann ich Ihnen auch nicht sagen, die kosten ja alle dasselbe, so einsfuffzig das Stück. Das tut sich nichts." Ich gebe es gern zurück und er verpackt es wieder im Originalkarton, den er am Fuß der Stellwand deponiert. Was das Interface zum PC kostet? Weiß er nicht. Ob es mit dem Diabass-Programm zusammenpaßt? Das könnte er mir zeigen, das hat er auf dem Laptop installiert. Und wendet sich ab, fortan unverwandt auf seine Tasten stierend.

Sein Chef kommt und beantwortet meine Fragen. Das neue Programm ist mir zu teuer. Wieder der verschwörerische Blick: Ich soll ihm den Namen meines Hausarztes sagen und diesen in den nächsten Tagen mal nach dem Programm fragen. Der Herr scheint verbindlicher als der Hüter der bunten Täschchen. Ihn frage ich auch nach den empfehlenswerten Ärzten mit einer Schwerpunktpraxis, wohl wissend, daß man nie eine Antwort auf so eine Frage bekommt. Aber da merke ich, was sich alles geändert hat seit meinem letzten Diabetikertag. Ich notiere gleich eine ganze Reihe von Namen, sogar eine Negativliste bekomme ich durch Stirnrunzeln und
andere atavistische Signale angedeutet. Der Markt ist in Bewegung, sagt man wohl. Ich ziehe mich zurück, um meinen lebensbedrohlichen Wert von 244 (oder 218mg) endlich runterzuspritzen. Schäbiges graues Täschchen, du. Was täte ich ohne dich?

 


  

 

Pattfuß und Segelohr

Wer wie ich jetzt diese wahre Festhalle verlassen will, muß durch die Hölle der Prothetik: Alles, was einem Diabetiker so absterben kann, wird hier anschaulich wie in einem Säulengang präsentiert. Vom kleinen Zeh bis zum kompletten Bein, geschient, wattiert, gelenkig ersetzt - ich finde es eher wegschaulich und fühle mich an alte Fotos vom Weltkrieg erinnert. Vom ersten.

Aber da erblicke ich doch noch den Computer des Orthopäden, der mir bestimmt ein Bild von dem Druck machen kann, unter dem ich stehe, äh, mit dem ich auf den Füßen stehe. Und der Orthopäde heißt gar nicht Dante und ist eine Frau, der ich mich mit meinem Begehr anvertraue. Und schon sitze ich und soll meine Schuhe ausziehen. Ha! Damit hatte ich gerechnet und alle Reinigungsriten peinlich genau befolgt! Oder doch nicht alle? Meine Schuhe sehen aus wie nach einer Wattwanderung. Zu spät. Ich sitze ja bereits. Die ältere Dame aus dem Saal, Sie erinnern sich, kommt hinzu: "Ist hier die Fußuntersuchung?" Die Orthopädieschumachermeisterin bejaht. "Wo Sie einem die Füße so richtig untersuchen, ich meine..." Ja. Ich glaube nicht, daß die beiden sich wirklich verstehen, aber jetzt bin erstmal ich dran. Und werde verkabelt und fußbezüglich in steile gelbe Patschen verpackt, deren Innensohlen lauter glänzende Leiterbahnen haben. Auf einem Bein soll ich stehen, ganz natürlich. Vor inzwischen großem Publikum zeige ich eine erbärmliche Nummer, erst links, dann rechts. Ein Nummerngirl trägt ein Schild durch den Flur: "Storch im Salat" heißt also mein Auftritt. "Und jetzt einmal ganz natürlich gehen, bitte. Keine Angst, die Kabel werden Ihnen folgen!" Das tun sie auch fünf Meter lang. "Und jetzt das Ganze zurück!" Das Nummerngirl trägt jetzt das Schild "Eiertanz" Fünf Meter Kabel liegen im Weg, aber bevor ich mich verheddere, lasse ich mich auf den Stuhl fallen, neben dem die Meisterin bereits auswerten läßt. "Aha. Das Rote sind die Problemzonen, gegen die mann vielleicht etwas machen sollte." Ich staune, aber ich erkenne meine Füße nicht wieder! Das da, der Fleck, ist die alte Warze. So weit, so schlecht. Aber so sieht doch nie im Leben ein Plattfuß aus! Da ist doch eine vorschriftsmäßige Wölbung zu erkennen. Und ich wurde 45 Jahre alt in dem Bewußtsein, Plattfüße zu haben. Acht war ich, als ichs erfuhr und erschrak. Ich weiß es noch genau. Das war kurz nachdem meine Schwester mir einreden wollte, ich hätte Segelohren! Plattfuß! Mein ganzes Leben wäre ein anders gewesen, wenn ich schon damals... Die Meisterin beruhigt mich: "Das dürfen Sie nicht so ernst nehmen, das ist die Standarddiagnose, das sagen sie immer." Das sagt sie so. "Wenn Sie etwas haben, dann höchstens einen Senk-Knickfuß." Nun, vielleicht wäre mein Leben doch in den ähnlichen Bahnen abgelaufen. Ich steige vorsichtig über die Kabel und werde beinahe von den beiden ÄiP umgerannt, die ein piependes Gerät schützend vor sich halten und ihrem schweren Dienst zueilen. Davon also war sie so müde. Und ich dachte schon.

 

  

 

Wie beruhigend ist es doch zu wissen, daß so viele Menschen sich Tag für Tag um uns bemühen: Diabetikertag für Diabetikertag. D-Day?

Beim nächsten Mal gehe ich wieder hin. Ich brauche dringend ein neues, noch bunteres Täschchen. Bis dahin wollen WIR alles tun, damit es UNS gut geht.

 


©
1998 Michael Möller   commbuero@t-online.de

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