Pressekonferenz zum II. Symposium „Der herzkranke Diabetiker“
„Disease-Management beim herzkranken Diabetiker – Krankheits-Management oder
Kosten-Management?“
06.12.2002, Berlin
Schon lange ist bekannt, dass die Zahl der Diabetiker, vor allem der
Typ 2-Diabetiker, rasant im Ansteigen begriffen ist. Während man zur Zeit von etwa 150 Millionen Menschen
mit Diabetes weltweit ausgeht, rechnet die Weltgesundheitsorganisation WHO mit einer Verdopplung auf 300 Millionen
bis zum Jahre 2025. Aber nicht nur im quantitativen Anstieg der Diabetikerzahlen liegt eine große Herausforderung
für die Gesundheitspolitik der stark betroffenen westeuropäischen Staaten. Das Problem „Diabetes mellitus“
erfordert auch eine qualitativ verbesserte, völlig neu gewichtete Versorgung jedes einzelnen Menschen mit
Diabetes, wenn es uns nicht über den Kopf wachsen soll. Denn neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen: Der
Typ 2-Diabetes, der mindestens 90 Prozent aller Diabetes-Erkrankungen ausmacht, ist eben nicht nur eine harmlose
Alterserscheinung mit erhöhten Blutzuckerwerten, sondern von Beginn an – bereits Jahre vor der Erstmanifestation
– eine ernst zu nehmende Erkrankung des Herzens und aller Blutgefäße.
Aktuelle Daten aus wissenschaftlich abgesicherten Studien zeigen, dass Diabetiker mit den gleichen Präventionsmaßnahmen
für Herz und Kreislauf behandelt werden müssen wie Nichtdiabetiker, die bereits einen Herzinfarkt erlebt
und überlebt haben. Dies betonte Prof. Dr. med. Wolfgang Motz, Ärztlicher Direktor des Klinikums Karlsburg,
Herz- und Diabeteszentrum Mecklenburg-Vorpommern, auf der Pressekonferenz „Disease-Management beim herzkranken
Diabetiker – Krankheits-Management oder Kosten-Management?“ im Rahmen des II. Symposiums „Der herzkranke Diabetiker“
im Dezember 2002 in Berlin.
Während schon heute die Finanzlage der Krankenkassen vor allem durch den Anstieg der Diabetikerzahlen überaus
angespannt ist, ist in den kommenden Jahren eine Potenzierung des Problems zu erwarten, wenn eine wachsende Zahl
von Diabetikern ihr Recht auf adäquate Versorgung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft erkennen und einfordern
wird. Denn „die Deutschen sind keineswegs medizinisch überversorgt“, konstatierte Motz und führte dies
an erschreckenden Konsequenzen der mangelnden Diabetikerversorgung aus:
Jährlich erblinden in Deutschland 6.000 Typ 2-Diabetiker,
- 8.000 werden dialysepflichtig,
- bei 28.000 werden Gliedmaßen amputiert,
- 27.000 bekommen einen Herzinfarkt.
„Diese Zahlen sind in der Tat alarmierend und haben Aufforderungscharakter“,
so Motz. Die Behandlung der Typ 2-Diabetiker sei heute völlig unzureichend. Er verlangte eine Umsetzung der
aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse in Behandlungsstrategien und eine angemessene Berücksichtigung
der Herz-Kreislauf-Komplikationen des Diabetes beim Entwurf solcher Konzepte.
Prof. Dr. med. Wolfgang Kerner, Klinikum Karlsburg, Direktor der Klinik für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten,
betonte, dass die gesundheitspolitische Bedeutung des Typ 2-Diabetes mellitus in ihrem ganzen Ausmaß erst
im Laufe der 90er Jahre deutlich geworden sei. Kerner verwies auf die „St.-Vincent-Deklaration“. Bei einem Treffen
im italienischen St. Vincent hatten Ärzte und Diabetiker aus ganz Europa bereits am 12. Oktober 1989 konkrete
Forderungen formuliert, die Folgekomplikationen des Diabetes mellitus drastisch zu reduzieren:
- Reduktion von Erblindungen durch Diabetes um ein Drittel oder mehr.
- Reduktion des Auftretens von dialysepflichtiger Niereninsuffizienz durch
Diabetes um ein Drittel oder mehr.
- Reduktion von Amputationen bei Diabetikern um mindestens die Hälfte.
- Reduktion von Morbidität und Mortalität an koronarer Herzkrankheit
durch intensive Programme zur Reduktion der Risikofaktoren.
- Reduktion der Schwangerschaftskomplikationen bei Diabetikerinnen auf
das bei gesunden Frauen beobachtete Maß.
Diese Forderungen, so Kerner, führten Anfang der 90er Jahre in krasser
Weise vor Augen, dass die Probleme auf nationaler Ebene noch nicht einmal in angemessener Weise statistisch erfasst
worden waren. Spürbare Behandlungserfolge oder gar ein Erreichen der Ziele der St.-Vincent-Deklaration seien
bis heute erst recht in keinem Staat zu entdecken. Es habe zwar, so Kerner, beispielsweise in Deutschland hoffnungsvolle
Ansätze in Form verschiedener Diabetikerbetreuungs-Vereinbarungen gegeben, Modelle, welche auch die Schnittstellen
der verschiedenen Versorgungsebenen der Diabetiker berücksichtigt hatten. „Im Jahre 2000 nahm sich nun der
Sachverständigenbeirat im Gesundheitswesen der Versorgung chronisch Kranker an, darunter auch der Diabetiker“,
so Kerner. Dieser habe die Gesamtheit der vorhandenen Modelle aber nicht weiterentwickelt und vereinheitlicht,
sondern stattdessen als „Kleinstaaterei“ und „Flickenteppich“ kritisiert und einfach vom Tisch gewischt. Damit
sei das Problem aber keineswegs gelöst. Kerner befürwortete zwar ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen
auf Bundesebene, dies dürfe aber nicht dazu führen, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet und
alle bisherigen Betreuungsmodelle über Bord wirft. Den kürzlich beschlossenen Disease Management Programmen
(DMP) steht er eher skeptisch gegenüber: „Es ist zu bezweifeln, dass dadurch tatsächlich die große
Wende in der Versorgung von Menschen mit Diabetes mellitus eintreten wird.“
Die allerorts vorhandenen Zweifel an einer angemessenen Versorgung im Rahmen der künftigen Disease Management
Programme werden auch durch Bestrebungen genährt, anerkannte Behandlungskriterien aufzuweichen und beispielsweise
für den Langzeit-Blutzuckerwert HbA1c Werte bis hinauf zu 8,0 Prozent (!) als völlig ausreichend einzustufen,
anstatt auf Werten unter 6,5 bis 7,0 Prozent zu insistieren, wie es wissenschaftlich abgesichert wäre.
Die Umsetzung aktueller, durch wissenschaftliche Studien belegter Behandlungsempfehlungen „bedeutet zwar
ein höheres Kostenvolumen, es ist aber gut belegt, dass die aggressive Behandlung des Diabetikers im Vergleich
zum Nicht-Diabetiker effektiver ist und zu einer stärkeren Absenkung von kardiovaskulären Komplikationen
führt“, erklärte Prof. Dr. med. Dieter Horstkotte, Bad Oeynhausen, Direktor der Kardiologischen Klinik,
Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen. Durch die Gabe von Insulin- und Glukose-Infusionen könne beispielsweise
das Akutkomplikationsrisiko des akuten Myokardinfarkts beim Typ-2 Diabetiker, welches im Vergleich zur Normalbevölkerung
deutlich höher liege, weitgehend dem des Nicht-Diabetikers angeglichen werden. So sei es möglich,
die Prognose der betroffenen Diabetiker über einen Behandlungszeitraum von drei bis vier Jahren anhaltend
zu verbessern, ergänzte er. Die Umsetzung der einschlägigen aktuellen Studienergebnisse stehe allerdings
in vielen Ländern, so auch in Deutschland, noch aus.
Außerdem ließe sich durch konsequent optimale Einstellung nicht nur des Blutzuckers, sondern auch des
Blutdrucks und der Lipidspiegel vor einer Bypass-Operation oder einem Eingriff im Herzkatheterlabor die Komplikationsrate
dieser Interventionsmaßnahmen deutlich verringern. Aber selbst die besten Akutmaßnahmen bei Diabetikern
mit kardio-vaskulären Ereignissen seien nicht imstande, das langfristig höhere Risiko des Diabetikers
auf das eines Stoffwechselgesunden abzusenken. Nach etwa drei Jahren seien die Komplikationsraten beim Typ 2Diabetiker
schließlich deutlich erhöht und die Sterberate nehme zu.
Horstkotte resümierte: „Eine Reduktion der Gesamtkosten in der Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen
beim Typ 2Diabetiker kann nur dadurch erreicht werden, dass durch eine Verbesserung der Prävention und Einleitung
einer Behandlung in den Frühstadien der Stoffwechselstörung die Manifestation des Typ 2Diabetes zeitlich
hinausgeschoben wird und durch eine konsequente Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren die Auswirkungen
auf das kardiovaskuläre System reduziert werden.“
„Vom medizinischen Fortschritt, der sich als günstig für die nichtdiabetische Bevölkerung erwiesen
hat, haben zuckerkranke Menschen offensichtlich nur unzureichend profitiert“, kritisierte Prof. Dr. med. Diethelm
Tschöpe, Düsseldorf, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung „Der herzkranke Diabetiker“ (DHD). Er
betonte demgegenüber: „Diabetes ist eine Herz- und Gefäßkrankheit. Die Unterbrechung der Blutzufuhr
an lebenswichtige Organe stellt das eigentliche Erkrankungspotential dar, das Lebensqualität und Prognose
der Patienten bestimmt.“ Es werde nun darauf ankommen, die Neustrukturierung unseres Gesundheitssystems zu
nutzen, um zu einer breiten interdisziplinären Zusammenarbeit der beteiligten Disziplinen und Instanzen zu
kommen, erklärte er.
In einem gemeinsamen Bulletin fordern die Herz- und Diabeteszentren Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern
sowie die Stiftung „Der herzkranke Diabetiker“
- alle Typ 2-Diabetiker wie kardio-vaskuläre Risikopatienten zu behandeln
- zur Verbesserung der koronaren Prognose dieser Hochrisikopatienten im
gesamten Betreuungsprozess endlich diagnostische und therapeutische Innovationen, z. B. nicht invasive Bestimmung
des Koronarstatus, Telemedizin oder innovative Medikamente, einzusetzen
- das alarmierende Kommunikationsdefizit zu bekämpfen und dabei nicht
nur Ärzte, Kostenträger und Politiker, sondern auch die Betroffenen einzubeziehen
- für eine problem- und stadiengerechte Diabetikerversorgung eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Disziplinen und Instanzen im Sinne eines effektiven Schnittstellenmanagements
zu installieren und zu etablieren
Die einleitende Feststellung des Bulletins bringt die Gesamtproblematik auf den Punkt: „Managed Care ist eine Chance,
aber nur wenn die Probleme des Patienten anerkannt sind und im Mittelpunkt stehen.“
Stiftung "Der herzkranke Diabetiker", Pressestelle:
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